6. November 2011

Einführung von Elisabeth Wunderli zur Lesung vom 6.11.2011

Ich freue mich sehr, dass der heutige Abend möglich geworden ist und begrüsse alle herzlich, besonders Brigit Keller, die aus ihrem Lyrikband „Sehnarben“ lesen wird. 

Zuerst noch eine kleine Vorbemerkung zur Gestaltung der Lesung. Brigit wird in einem 1. Teil ca. 20‘ lesen. Dann gibt es eine Pause in der wir mit Brigit ins Gespräch kommen können, ihr Fragen stellen dürfen oder einfach die Möglichkeit haben aufs Gehörte zu reagieren.

Dann, bitte nicht erschrecken! In diesem Haushalt hat es vier Katzen und die Hündin Kali. Es ist also durchaus möglich, dass sich bei dieser Hauslesung tierische Immissionen einmischen.

Ich brauche Ihnen B.K. nicht speziell und lange vorzustellen. Alle kennen  sie als langjährige Studienleiterin für Frauenarbeit an der Paulus-Akademie Zürich. 

Brigit, du bist Germanistin und hast an der PAZ viele Lyrikseminare für Frauen veranstaltet, die mir in bester Erinnerung bleiben. Du hast uns Lyrikerinnen wie Hilde Domin, Erika Burkart, Nelly Sachs, Rose Ausländer, Ingeborg Bachmann und viele andere nahe gebracht.  Mit Frauen zusammen hast du einen Weg gesucht,  herauszufinden was Sprache ist, was Worte vermögen. Der Sprache nachgehen, sie zu ergründen und durch sie das eigene Leben besser zu verstehen, das waren spannende Seminarmomente für uns Frauen.

„Mein Leben muss doch eine Sprache haben“. Dieser Satz von Bettina von Arnim begleitet dich seit vielen Jahren. Vielleicht ist er zu einer Art Lebensprogramm geworden. Geschrieben hast du früher schon lange, aber nicht primär an Veröffentlichung gedacht. Als junge Frau wolltest du einfach deine Gefühle ausdrücken. Später wurde dir das Suchen nach Worten, das Ringen um sie, die Auseinandersetzung auch mit der eigenen Wortlosigkeit wichtig. 

Nach deinem 50. Geburtstag hast du begonnen, deine Gedichte zu sichten und zu sortieren. Der Wunsch mit ihnen an die Öffentlichkeit zu treten wurde glücklicherweise immer drängender. Gott sei Dank, wir wären um vieles ärmer, wenn dein ganzes lyrisches Werk in der Schublade läge.

„Sehnarben“ ist nach „Vogelflug im Augenwinkel“ und „Wasserzeichen in meiner Haut“ als dritter Lyrikband im efef-Verlag in diesem Frühjahr (2011) erschienen.

Du hast die Gedichte in verschiedene Gruppen thematisch unterteilt. Nur schon die einzelnen Überschriften wie z.B. „Wortflügel nicht gekappt“, „Windblütig“ oder „Wintersaat“ lassen eine thematische Fülle erahnen. Dazu kommt eine Sammlung von Briefgedichten und ein Zyklus mit „Fragmenten“, der mir persönlich besonders ans Herz gewachsen ist. Darin beschäftigst du dich mit Figuren aus der Antike wie mit Hera von Samos oder der Nike von Samothrake und es kommt mir vor, als würden diese Frauengestalten zu neuem Leben erwachen. Du hast es verstanden, sie mit den schwierigen Zeitproblemen zusammenzubringen.

Brigit, wenn ich deine Gedichte lese, lasse ich mich im Tiefsten berühren von deiner Wortkraft aber auch deiner Imaginationsfähigkeit. Die Lektüre löst in mir Sehnsucht nach eigener Wort- und Sprachgestaltung aus. Für mich ist dein Wortreichtum vor allem auch eine dichterische Musikalität, die mich stark in Bann zieht. Ich kann da nicht anders, ich muss an Schubert’sche Kammermusik denken. Wenn ich ein Wort wie „Windblütig“ vor mir sehe (in das ich mich richtig verliebt habe) ist das für mich ein klangfarbiges Geschenk. Für dich mag es anders aussehen, vielleicht mag es ein errungenes Geschenk nach harter Arbeit sein.

Einmal mit der Lektüre angefangen, lässt sie so schnell nicht wieder los. Ich kann in deine Sprache eintauchen. Darin beschreibst du eigene Lebenserfahrungen, stellst Fragen, lässt dich vom Alltäglichen betreffen, das dauernd auf uns einstürmt. Und du suchst und suchst und ringst nach Wort und Ausdruck. Du sagst selber, dass viele deiner Gedichte mit schwierigen Lebenserfahrungen zusammenhängen. Das spüren deine Leserinnen, das macht die grosse Betroffenheit aus aber auch den Sog  nicht mehr davon loszukommen.

Bei der Lektüre der Gedichte bin ich auf ein ganz kurzes Gedicht gestossen, das mich sofort staunen liess, weil es so ganz anders, so ohne „Sehnarben“ ist. Eine mir unbekannte Seite deines Wesens, eine leichte, heiter humorvolle begegnet mir da. Da das Gedicht in der Lesung nicht vorkommt, werde ich es euch vorlesen:


Heute morgen
erwachten die Worte
gleichzeitig mit mir
Später hatte ich
ein Rendez-vous
mit einem Satz
Wenn das so weitergeht
steht abends ein Roman
vor der Tür