12. Juni 2012

Zur Künstlerin Heidi Widmer

Im Durchzug aller Winde

Die Augen sind offen, alles kann eindringen. Das Herz ist offen, die Sensibilität. Die Künstlerin ist eine Künstlerin ist eine Künstlerin. Heidi Widmer hat das von jung an gewusst und daran festgehalten – schonungslos, hartnäckig. Sie weigert sich, Abstriche zu machen, sie weigert sich, einen Schlussstrich zu ziehen. 


Zwar muss sie bei jeder Arbeit einen Abschluss finden, aber nur um weiter zu gehen, nicht um auszuruhen. Ihr Schaffen ist prozesshaft, ist zugleich Erfassen von etwas und Öffnen auf etwas hin, ist Suchen, ist Werden. Kein Blatt ohne Intensität. Sie kennt das Geheimnis des Samenkorns, zeichnet im Rhythmus von Leben und Tod.

Zeichnen und malen ist für Heidi Widmer wie atmen, sie kann nicht ohne sein, sie ist täglich hingegeben an diese ihre Aufgabe. Intensiv und beharrlich. Als ich sie nach ihrer langjährigen Reise kennen lernte, planten wir 1972 eine Ausstellung in der Paulus-Akademie. Tagelang haben wir gehängt und umgehängt. Keine Arbeit war Heidi Widmer zu viel, es musste so werden wie es für sie richtig war. Und sie erzählte von ihren Erfahrungen, zeigte in den Bildern Menschen, die selber keine Sprache hatten, gab ihnen Sprache in jedem Bild, knüpfte Fäden zwischen ihnen und uns BetrachterInnen.

Verbindungen schaffen zwischen Menschen – im Leben und auf dem Papier, das ist zentral für diese Künstlerin. Die Sehnsucht nach Verbindung prägt jeden Strich, prägt Linien und Bänder; die Verzweiflung, dass dies oft aussichtslos ist, zeigt sich ebenso: in bodenlosen Räumen, in Wirrungen Verwirrungen. Menschen sind aneinander gekettet, Menschen begegnen sich; in geheimnisvollen Räumen sind sie kleine Figuren, verloren oder aufgehoben, gefangen oder umhüllt. Heidi Widmer ist erfasst von diesem Geschehen, steht gleichsam im Durchzug von Welten, gestaltet was sie sieht und spürt – die Augen, das Herz weit offen. 

Brigit Keller
Beitrag für das Buch „THEATRUM MUNDI. Heidi Widmer: Zeichnungen“, 
hg. von Isabel Zürcher, Wohlen 2012