1. Juli 2015

Gedicht zur Statue einer Frau aus Mari in einem syrischen Museum

I
Da sitzt sie im steinernen Schafspelz
seit mehreren tausend Jahren
schaut in die Ferne mit
ihren Lapislazuliaugen
schwarzumrandet das Weiss
Der Umhang der Rock mit
gleichmässigen Zotteln
lanzettenförmig im schmutzigen
Weiss des Gipssteins
Die Augen klar unverstellt
sie blickt durch Jahrtausende
sitzt da als gäbe es keine Grenzen
Was schaut sie durchdringt sie
welche Ferne ist ihr nah
Ich falle in ein Delirium
stolpere unter ihrem ungetrübten Blick
der ganz und gar nicht mir gilt
auch mir gilt


II
Die syrische Frau aus Mari
ich sah sie vor drei Jahren
in Damaskus
im Museum stumm reglos
Wo ist sie jetzt
aufgestanden aus der Ruhe
aufgescheucht durch Lärm Gewalt
aufgestanden zu neuem Leben
oder wurde sie vergraben
ist sie zerstört untergetaucht
ausgebombt verbrannt


III
Die Vorstellung die gilt
die Gräber werden sich öffnen
die Toten werden aufstehn
die verstümmelten Glieder
finden zusammen werden ganz
Sie werden sich rächen
sie werden leben wollen
in Freiheit und Würde
Ich glaube nicht an die
Auferstehung der Toten
ich will an sie glauben
an dich an mich


IV
Fremd der Blick der Frau aus Mari
Fremd was jetzt geschieht in Syrien
das Land nah gerückt durch eine Reise
das Land unverstanden in seiner Vielfalt
Jahrtausende alt die Geschichte
Die schwarzen Basaltsäulen
von Bosra sie haben viel
überdauert Nabathäisches Erbe
von Römern glorios verwendet
Und jetzt - wer kämpft mit wem
wem gehört das Land
dieses sehr schöne Land


V
Verstehen wollen
Hände gebunden gefaltet
Wem nützen die Tränen
die Nachrichten Gebete
Wir sahen lachende Knaben
in der Drusenstadt Shaba
sind sie am Leben
ihr Lachen noch unverloren
der Glanz ihrer dunklen Augen
ist er noch da
Es durchfährt mich der Blick
der Frau aus Mari und der
der Wasser spendenden Göttin
aus Aleppo lebensgross
Mit brennenden Lippen möchte ich
wissend von ihrem Wasser trinken



Erschienen in Neue Wege 7/8 2012 -
und leider immer noch aktuell
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