1. November 2010

Flucht und Verwandlung Zur Dichterin Nelly Sachs


Nelly Sachs, der die Schwedische Akademie 1966 - zusammen mit Josef Agnon - den Nobelpreis zuerkannte, wurde am 10.Dezember 1891 in Berlin geboren; sie starb am 12.Mai 1970 in Stockholm. Schweden war ihr seit 1940 zum Zufluchtsland geworden.


Es sind also bereits 40 Jahre vergangen seit dem Tod dieser Dichterin und 70 Jahre seit ihrer Flucht nach Schweden. Zum ersten Mal wird ihr Werk mit einer  Wanderausstellung gewürdigt. Eröffnet wurde diese  im März dieses Jahres im Jüdischen Museum Berlin; weitere Ausstellungsorte sind Stockholm, Zürich, Frankfurt, Dortmund. Die Zürcher Ausstellung findet vom 15. Dezember 2010 bis zum 27. Februar 2011 im Museum Strauhof statt. Es ist wichtig, sich an diese Dichterin zu erinnern; denn sind die Gedichte und Spiele von Nelly Sachs noch bekannt bzw. werden sie gelesen? Sind uns ihre Totenklagen oder die ekstatischen Texte heute noch wichtig? Ertragen wir ihren Schmerz und die Radikalität ihrer Sehnsucht? Nelly Sachs hat den Frieden die „leiseste aller Geburten“ genannt und war zutiefst betroffen, dass nach 1945 das „Spiel“ zwischen „Jäger und Gejagt“, Flüchtlingen und Flucht“, „Opfer und Henker“ kein Ende gefunden, sondern neue Formen angenommen hat. „Sternverdunkelung“ ging und geht weiter. Der Rat von Nelly Sachs hat nichts an Aktualität verloren:
            „Nicht einschlafen lassen die Blitze der Trauer
            Das Feld des Vergessens.“
Erfreulicherweise ist bei Suhrkamp eine kommentierte Werkausgabe in 4 Bänden geplant und teilweise bereits erschienen. So sind vergriffene Werke wieder fassbar und werden durch bisher unveröffentlichte ergänzt. Die Ausstellung wie die neue Werkausgabe bieten Gelegenheit, dieser bedeutenden deutschen Dichterin wieder bzw. neu zu begegnen.

Nelly Sachs floh mit ihrer Mutter Margarete Sachs im Mai 1940 von Berlin nach Stockholm. Die Flucht gelang sozusagen in letzter Minute; denn im Mai 1940, mitten im Krieg, als Norwegen bereits von Nazitruppen besetzt war, traf gleichzeitig mit der Einreiseerlaubnis nach Schweden der Befehl der Gestapo ein, sich für den Abtransport ins Konzentrationslager zu melden. Über die Zeit von 1933 – 1940, eine Zeit der ständigen Entwürdigung, Angst, Verzweiflung, hat Nellly Sachs einen Prosatext geschrieben: „Leben unter Bedrohung“. Daraus einige Sätze:
  • „Zeit unter Diktat. Wer diktiert? Alle! Mit Ausnahme derer, die auf dem Rücken liegen wie der Käfer vor dem Tod.“
  • „Es kamen Schritte. Starke Schritte. Schritte in denen das Recht sich häuslich niedergelassen hatte. Schritte stiessen an die Tür. Sofort sagten sie, die Zeit gehört uns!“
  •  „Unter Bedrohung leben: im offnen Grab verwesen ohne Tod. Das Gehirn fasst nicht mehr.“

Geschrieben hat Nelly Sachs schon als junge Frau. Während aber die frühen Gedichte eher konventionell waren, brachten die Texte nach der Flucht nach Schweden wie „Blutstürze“ aus ihr heraus. Sie schrieb, um überleben, um atmen zu können. „Und so ist alles, was ich schreiben muss, wie Atmen. Ich müsste ersticken, täte ich es nicht.“ Sie hat den Ermordeten des Holocaust Stimme verliehen. „Meine Metaphern sind meine Wunden“, hat sie oft betont. Doch schon im Gedichtband „Sternverdunkelung“ und in einer immer eigeneren Sprache hat Nelly Sachs der erfahrenen Gewalt etwas anderes entgegengesetzt: die Verwandlung der Qual, den Versuch, den geschändeten Planeten Erde zu heilen. Dazu aber musste das Schwere, Versteinerte „durchschmerzt“ werden.
                        „An Stelle von Heimat
                        halte ich die Verwandlungen der Welt - “.

Nelly Sachs war Jüdin, wurde aber gänzlich undogmatisch erzogen. Wie vielen andern wurde ihr die jüdische Identität durch die Naziherrschaft aufgezwungen. Doch fand sie in der hebräischen Bibel und in der jüdischen Mystik, besonders im Chassidismus, Bestätigung und Kraftquelle für ihr eigenes Lebensgefühl. „Die gekrümmte Linie des Leidens / nachtastend die göttlich entzündete Geometrie / des Weltalls / immer auf der Leuchtspur zu dir...“ - so hat diese Dichterin und Mystikerin ihr Leben verstanden. Zu dieser Haltung und wie sie sich in ihrer Dichtung zeigt, die folgenden Gedanken.

Nelly Sachs betrachtete das furchtbar Erlebte nicht als sinnlos. Der Ordnung der Henker setzt sie ihre andere Deutung entgegen. Das Erlittene der Opfer kann  Zerstörungen heilen, Dunkelheiten erhellen. Es wirkt der „Sternverdunklung“ (so der Titel ihres zweiten Gedichtbandes von 1949) entgegen und schafft neue Sterne:
            „Wer weiss, wo die Sterne stehn
            in des Schöpfers Herrlichkeitsordnung
und wo der Friede beginnt
und ob in der Tragödie der Erde
die blutig gerissene Kieme des Fisches
bestimmt ist,
das Sterbild Marter
mit seinem Rubinrot zu ergänzen,
den ersten Buchstaben
der wortlosen Sprache zu schreiben - “
Diese „Sinngebung“ hat nie dazu geführt, die Verbrechen zu entschuldigen; das wäre ein grobes Missverständnis. Aber es gilt, den zugefügten Schmerz bewusst auf sich zu nehmen, verhärtete Situationen zu „durchschmerzen“. Durch-schmerzen ist ein wichtiges Verb von Nelly Sachs. Es bedeutet, sich durchs Dunkle hindurchzuleiden im Sinne eines aktiven Vorgangs, um das Dunkle zu verwandeln und ins Licht durchzustossen oder das Licht gleichsam zu gebären: „nur durchzuleiden die Sterne / die wollen ans Licht“. Durchschmerzen betrachtete N.Sachs als wichtige Aufgabe. Ein Beispiel aus dem Band „Flucht und Verwandlung“ (1959):
            „So muss ich denn aufstehen
und diesen Felsen durchschmerzen
bis ich Staubgeworfene
bräutlich Verschleierte
den Seeleneingang fand
wo das immer knospende Samenkorn
die erste Wunde
ins Geheimnis schlägt.“

In der Bildwelt von Nelly Sachs steht das Dunkle, Harte, Schwere für unerlöste Situationen, Licht Musik, Tanz verweisen auf einen andern Zustand, auf das Heile, das „unsichtbaren Universums“, das die Dichterin durch ihre Wortarbeit miterschafft. Dunkelheit und Nacht waren einst nichts Negatives. Sternverdunkelung aber ist  Nacht-machung, ist eine Verkehrung. Und Verkehrungen sind eine grundlegende Erfahrung der Schreckenszeit: Der Tod ist nicht mehr „Gast“, sondern „Wirt“; der Stern nicht mehr leuchtendes Gestirn, sondern „schwarzangebeizt“ und blind; Kindheit ist nicht mehr Beginn des Lebens, sondern Vorbereitung zum Sterben.
Nelly Sachs meint das elementar: Dunkelheit hat die Menschen befallen und das sieht sie in kosmischen Bildern. Durch den falschen Segen vom „Golem Tod“, dem Massentod,  wurde die einst glänzende und singende Erde zum „Schrei“, zur „Blinden“, wurde nachtschwarz „unter den Leuchtbildern des Himmels“. Erst durch die Leidensarbeit wird dieses „Gestirn der Qualen“ erlösungsreif werden, dann „o Blinde wirst du wieder sehn“.

Nelly Sachs setzt der Verkehrung Verwandlung entgegen. Schöpfung ist nichts Statisches, sie geht weiter. Durch den Tod haben alle – Henker wie Opfer – Teil daran. Sterben (und das unterscheidet sie vom Ermordetwerden, vom falschen Tod) bedeutet, aufgelöst zu werden in den Verwandlungsstoff, in die Elemente, die anders gemischt werden. Nach diesem „echten Tod“ sehnt sich Nelly Sachs: „und ich sehne mich weiss nach dir / Tod - sei mir kein Stiefvater mehr - “. Im echten Tod vollzieht sich die zentrale Verwandlung: Tod bedeutet vom Staubhaften zum Staublosen zu werden, vom Dunkeln ins Helle zu kommen, teilzuhaben am Geheimnis des „unsichtbaren Universums“.

Doch in der Zeit, die es zu leben gilt, haben die Menschen nach Nelly Sachs die Aufgabe an der Verwandlung und Heilung mitzuarbeiten. Der Weg „von Tod in Geburt“ geschieht  nicht automatisch. Liebe ist Gegenkraft zum Ermordet-werden, Liebe ist wie Tod eine „entgrenzende Kraft“. Auch wenn die Zeit geprägt ist vom schrecklich Erlebten und von neuen Untaten, viele Menschen wegschauen oder wie Nelly Sachs es ausdrückt „schlafen“, gibt es die Gegenkraft der Liebe:
„Immer noch Mitternacht auf diesem Stern
und die Heerscharen des Schlafes.
Nur einige von den grossen Verzweiflern
haben so geliebt,
dass der Nacht Granit aufsprang
vor ihres Blitzes weissschneidendem Geweih.“

Nelly Sachs war überzeugt, an der Erlösung mitwirken zu können. Für diese Hoffnung war das ihr durch Martin Buber vermittelte Gedankengut des Chassidismus grundlegend. Es geht in der chassidischen Mystik vor allem um die Heilung des Alltags-Augenblickes. Eine kosmische Dimension verbindet sich mit der konkreten Alltagspraxis. Alles sollte mit innerer Hingabe, mit Intensität, mit ekstatischer Begeisterung vollzogen werden und zwar dort, wo wir gerade jetzt sind. Einzig notwendig ist die Ausrichtung der Seele auf die Erlösung der Welt hin.  Dieses Gedankengut entsprach Nelly Sachs und gab ihr Trost, Ekstase war ihr im innersten Wesen vertraut und ist Grundzug ihrer Dichtung. Gefragt nach ihrem Dasein antwortete sie in einem Brief vom 30.12.57:
„Ich lebe, ich atme den Augenblick, so tief meine Kraft es zulässt. Ich glaube an die Durchschmerzung, an die Durchseelung des Staubes als an eine Tätigkeit, wozu wir angetreten. Ich glaube an ein unsichtbares Universum, darin wir unser dunkel Vollbrachtes einzeichnen. Ich spüre die Energie des Lichtes, die den Stein in Musik aufbrechen lässt, und ich leide an meinem Leibe, an der furchtbaren Pfeilspitze der Sehnsucht…“

Im eingangs zitiere Gedicht aus „Flucht und Verwandlung“ (1959) lässt sich die skizzierte  Vorstellungswelt von Nelly Sachs erleben. In der Not, „In der Flucht“, wird die Teilhabe am Prozess der Verwandlung erfahren  -  auch wenn es hart ist, nur „in der Winde Tuch“ gehüllt zu sein, die Entwicklungsschritte schmerzhaft sind, der Schmetterling krank ist – wächst gerade dann die Kraft zu, der verlorenen Heimat etwas Umfassendes entgegen zu setzen:
„An Stelle von Heimat / halte ich die Verwandlungen der Welt - “.

erschienen in Neue Wege 11/2010